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Titel
Ein deutscher Gotteskrieger?. Der Attentäter Carl Ludwig Sand. Die Geschichte einer Radikalisierung


Autor(en)
Zimmermann, Harro
Erschienen
Paderborn 2020:
Anzahl Seiten
XVI, 347 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heinz-Gerhard Haupt, Geschichtswissenschaft, Universität Bielefeld

Es gehört zu den Paradoxien des 19. Jahrhunderts, dass es einerseits die Entfaltung des Sicherheitsstaates sah, der durch das legitime staatliche Gewaltmonopol die Zahl der Homizide weithin reduzierte, es andererseits aber auch die Hochzeit des politischen Mordes war, in der Individuen politische Würdenträger töteten, um die Richtung der politischen und sozialen Entwicklung zu verändern. Die Zahl der politischen Attentate ist für das Europa des 19. Jahrhunderts auf rund einhundert geschätzt worden.1 Mit der Ermordung von August von Kotzebue durch Carl Ludwig Sand im Jahre 1819 steht einer der aufsehenerregenden und schon mehrfach untersuchten politischen Morde des 19. Jahrhunderts im Mittelpunkt der Studie des Bremer Literaturwissenschaftlers Harro Zimmermann.2 Diese stützt sich nicht nur auf eine breite Sichtung der Sekundärliteratur, sondern vor allem auf eine sorgfältige Analyse der Schriften und Hinterlassenschaften von Sand sowie der umfangreichen zeitgenössischen Publizistik. Damit nehmen biographische Rekonstruktionen ebenso wie ausführliche ideengeschichtliche Studien zu Strafrecht, Nationalismus und Staatsdenken am Anfang des 19. Jahrhunderts einen breiten Platz ein. Der Band endet mit dem Abdruck wichtiger Schriften von Sand.

Zimmermann nähert sich seinem Thema nicht mit einer der Fragestellungen der aktuellen Terrorismusforschung, obwohl der Titel des Buches erwarten lässt, dass es mit der Selbstbezeichnung Sands nach Ähnlichkeiten und Unterschiede zu aktuellen „Gotteskriegern“ fragt.3 Dies ist nicht der Fall. Vielmehr steht Sand als Gotteskrieger deutscher Prägung, als einer der „jungen politischen Heilsprediger“ (S. XIII) im Mittelpunkt und wird sowohl die nationalpolitische Zielsetzung des Mordes als auch die nationale Verherrlichung der Tat hervorgehoben. „Deutschsein um 1819“ behauptet Zimmermann in einer bisweilen unverständlichen Metaphernsprache, „dahinter steht bei Jungrevolutionären wie Sand ein eschatologisch aufgeladenes Seelen- und Geistesgeflacker, ein agonales Brouillon aus verblichenem Aufklärungsanspruch, romantischer Staats-Körper-Organologie, völkischem Ursprungs-Reinheitsgeraune, religiöser Erweckungsinbrunst und frühem Freiheits- und Republik-Pathos.“ (S. XIII) Den biographischen Ansatz teilt der Autor mit anderen Studien zur Geschichte des Terrorismus.4 Eine Radikalisierung Sands – ein weiteres zentrales Konzept der aktuellen Terrorismusdebatte – wird in den Passagen dargestellt, in denen es um Herkunft und Studentenzeit in Tübingen und Jena geht, bevor dann Sands nationalpolitische Ziele, die Kontakte zur Burschenschaftsbewegung und zum Protestantismus unter breiter Benutzung zeitgenössischer Quellen im Vordergrund stehen. Das Radikalisierungskonzept selbst wird aber nicht leitend in der Interpretation, sondern unter Benutzung psychologischer Ansätze verdichtet Zimmermann seine Analyse zu einem „Täter-Ich“. Er spricht sogar von einem „paranoiden Selbst- und Realitätsbild“ Sands (S. 81), das durch eine starke Religiosität genährt sei, sieht ihn aber auch als Kind einer Zeit der Umbrüche und Zerstörung, die Zimmermann wortgewaltig eher als Hintergrundfolie, denn als handlungsleitend charakterisiert: „Das infernalisch entfesselte Machtsubjekt à la Bonaparte, die Obsessionen des Beherrschen- und Besitzen-Wollens, imperiale Okkupation, hasserfüllte Insurrektion und blutige Völkerschlacht, ja das Zermalmen des gemeinen Mannes zwischen den Mühlsteinen der politischen Großgewalten – all das sind geschichtliche Erfahrungen damaliger Zeitgenossenschaft, die den jungen Attentäter enervieren und später auch seiner Bluttat einen tiefreichenden Nimbus vermitteln sollten.“ (S. XV)

Der Mord an August von Kotzbue, einem öffentlich wirkungsvollen und scharfen Kritiker der nationalen Bewegung, sollte ebenso den Protest Sands gegen die Politik der Restauration wie sein Engagement für die deutsche Einheit ausdrücken. Die Studie lebt von den vertieften Einblicken in die Vorstellungs- und Gedankenwelt von Sand, der mit dem Vorhaben antrat, mit der nationalen Einheit auch die Reformation zu vollenden. Aber auch der Kontext des Prozesses, der Verurteilung und Enthauptung Sands kommt nicht zu kurz. Besonders innovativ sind die Passagen über Reaktionen in der Öffentlichkeit auf die Gewalttat. Wenn man mit Carola Dietze im 19. Jahrhundert vier Reaktionsweisen auf politischen Mord unterscheidet und zwischen Marginalisierung, Mobilisierung, Repression und Externalisierung differenziert5, so wirkte die Tat Sands sowohl als Anlass für die rigorose Repressionspolitik der „Demagogenverfolgung“ durch die restaurierten Ordnungsmächte, die den Mord als Provokation verstanden, als auch als Mobilisierung in der liberalen Öffentlichkeit, in der sich ein von romantischer Verklärung geprägter Kult des „reinen“ nationalen Helden entwickelte. Die beeindruckende Breite der Erzählungen, Romane und Dramen, die in Deutschland über Sand und seine Tat im 19. und 20. Jahrhundert erschienen sind und die Zimmermann einzeln und kenntnisreich vorstellt, deutet er stark verallgemeinernd erinnerungsgeschichtlich als Teil einer deutschen Identitätssuche: „Das Imago des Carl Ludwig Sand wurde in ihrer schaudernd-emphatischen Suggestivität zum Sinnzeichen der in wechselhafte Bewegungen geratenen Legitimitätsproblematik zwischen politischer Herrschaft und national-bürgerlichem Selbstwertgefühl“ und als „Splitter im Fleisch des nationalen Gemüts- und Erinnerungskorpus“. (S. 264) Bei dieser Analyse wäre freilich ein Blick in die Studie von Sylvia Schraut nützlich gewesen, die nicht nur eine geschlechtergeschichtliche Perspektive anmahnt, die bei Zimmermann fehlt, sondern auch empirisch und systematisch die Phasen der Erinnerungsgeschichte des Mordes im 19. und 20. Jahrhundert verfolgt und charakterisiert. Besonders überzeugend ist dabei auch ihr Hinweis auf die lokale Verankerung des zum Mythos verklärten Mordes.6

Für eine Geschichte der politischen Gewalt interessant sind die Passagen zum politischen Mord Sands (S. 188–205) und seine zeitgenössischen Interpretationen. In diesen wird zwischen den hehren Motiven und der verurteilten Tat, zwischen dem beeindruckenden Täter und der verdammungswürdigen Tat unterschieden. Besondere Bedeutung räumt Zimmermann der Position Hegels ein, der die Herrschaft des Rechts allen moralischen Kriterien überordnet und dem „elenden Kerl Sand“ vorwirft, die „reiche Gliederung der Sittlichkeit in sich, welche der Staat ist“ (197) zu verletzen. Daneben wird Sand als nationale Heldenfigur verherrlicht und nach Zimmermann ist es ihm gelungen, unter den Mächtigen Erschrecken zu erzeugen und unter den „guten Deutschen“ Sympathie zu gewinnen. (S. 205) Mit der Darstellung der vielfältigen Diskussionen von Philosophen und anderen Intellektuellen über den Charakter und die Rechtfertigung des Mordes einerseits, der populären Verherrlichungen Sands „zum Volkshelden“ und „zum edlen Mörder aus Vaterlandsliebe“ (S. 255) andererseits, liefert die Studie einen facettenreichen ideengeschichtlichen Zugang zur Analyse der Restaurationszeit.

Anmerkungen:
1 Daniel Schönpflug / Heinz-Gerhard Haupt, Terroristische Attentate und Politik im 19. Jahrhundert, in: Birgit Aschmann (Hrsg.), Durchbruch der Moderne? Neue Perspektiven auf das 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2019, S. 119–146, hier 119.
2 Daniel Schönpflug, Restauration et violence politique. L’attentat de Ludwig Sand dans son contexte européen, in: Jean-Claude Caron / Jean-Philippe Luis (Hrsg.), Rien appris, rien oublié? Les Restaurations dans l’Europe postnapoléonienne (1814–1830), Rennes 2015, S. 427–438; Sylvia Schraut, Wie der Hass gegen den Staatsrath Kotzebue und der Gedanke, ihn zu ermorden, in Sand entstand. Ein politischer Mord und seine Nachwirkungen, in: Christine Hikel / Sylvia Schraut (Hrsg.), Terrorismus und Geschlecht. Politische Gewalt in Europa seit dem 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2012, S. 145–166.
3 Siehe etwa die exzellente Studie von des französischen Djihad-Spezialisten Farhad Khosrokhavar, Le nouveau Jihad en Occident, Paris 2018.
4 Claudia Verhoven, The Old Man Karakozov. Imperial Russia, Modernity, and the Birth of Terrorism, Ithaca 2009; Carola Dietze, Die Erfindung des Terrorismus in Europa, Russland und den USA 1858–1866, Hamburg 2016.
5 Vgl. Dietze, Erfindung, S. 603.
6 Vgl. Schraut, Hass, S. 7–22 u. S. 145–168. Bezeichnenderweise zitiert Zimmermann zwar Schrauts Publikation, jedoch mit falschem Titel und Autorinnenschaft.

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